Hier die 9 Staun-Schlüssel!
- Wir staunen über das Außergewöhnliche.
Ich möchte behaupten, es gibt Dinge, die fast jeden zum Staunen bringen, weil sie so außergewöhnlich sind, zumindest jeden von uns, die im gleichen Kulturkreis leben.
Im Flugzeug nach Finnland lernte ich einmal zwei Ultraläufer kennen, die zu einem 24-Stundenlauf nach Helsinki unterwegs waren. Noch nie hatte ich von dieser Extremsportart gehört, hätte nie geglaubt, dass es Menschen gibt, die sechs Tage oder 10000 Meilen laufen, ununterbrochen. (Sie haben richtig gelesen „zehntausend“.)
Die 24 Stunden zu laufen, mit dem Ziel, möglichst weit zu kommen, war für die eine, wie sie mir erzählte, mehr ein Trainingslauf. Unvorstellbar für mich, dass man das durchhalten kann! Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.
- Wir staunen über das Besondere.
Im Gegensatz zum Außergewöhnlichen trägt das Besondere individuelle Züge: Was für mich besonders ist, muss dies für einen anderen noch nicht sein. Vielleicht fehlt ihm die nötige Information dazu, oder der Anlass nimmt in seinen Prioritäten keinen besonderen Platz ein.
Wie viele Bäume siehst du hier? Ich sehe fünf Bäume:

Aber es sind nur zwei! Ich staune.
3. Wir staunen über das Wunderbare, Unglaubliche.
Unglaubliches, Wunderhaftes, Wunderbares kann nicht erklärt werden und wird vielleicht auch nie geklärt.
Wenn ich einen „Magier“ 30 cm über dem Boden schweben sehe, im Schneidersitz, scheinbare für längere Zeit, mitten auf einem Marktplatz, werde ich staunen. „Unglaublich“, denke ich, aber doch auch bald, „da muss es eine Erklärung geben.“ Und wenn ich keine Erklärung finde, bin ich doch überzeugt, dass zu Hause mir das Internet dann diese liefern wird.
So soll das Staunen über Wunderbares und Unglaubliches nicht gemeint sein. Nein, wir ahnen oder sind überzeugt, hier wird es keine 100%igeErklärung geben.
- Wir staunen über das Unerklärliche (aus Unwissenheit).
Man staunt übers Unerklärliche. Diese Aussage gehört zur Definition des Staunens.
Ich staune immer noch über Flugzeuge am Himmel, obwohl sie mich schon oft in der Welt herumgeflogen haben. Als Kind hat man sie mir als bestaunenswert vermittelt („Schau mal, ein Flugzeug, wow!“). Und heute verstehe ich trotz Jahren Physikunterrichts immer noch nicht wirklich, warum Flugzeuge fliegen und nicht vom Himmel fallen.
Eigentlich müsste ich das verstehen, denn die Gesetze der Aerodynamik sind wirklich allgemeinverständlich und leicht nachvollziehbar. Trotz allem, ich staune immer noch.
- Wir staunen über aktuelle Ereignisse.
Aktuelle Ereignisse lassen uns staunen. Auch wenn das schon über zehn Jahre her ist, 2014 musste man z. B. nicht lang suchen oder fragen, wann Deutsche gestaunt haben. Die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien. Nicht so sehr der Gewinn des WM-Titels, sondern das 7:1. 7:1 zu gewinnen gegen den Weltmeister Brasilien, und das in Brasilien, nicht zu glauben. Eine Nation staunte, nach jedem Tor mehr. Ich gestehe, aus irgendwelchen Gründen hatte ich mir das Spiel nicht angeschaut, und dann das Ergebnis zu lesen! Staunen, staunen, staunen.
6. Wir staunen über das Erschreckende, Verwunderliche („Wie kann man nur?“).
Das Außergewöhnlich oder das Unerklärliche können im Erleben des Staunens aber nicht nur angenehme Gefühle hervorrufen. Staunen kennt auch mein Erschrecken, (Ehr)Furcht oder sogar meine Fassungslosigkeit.
Eigentlich erst zum zweiten Mal in meinem Leben fuhr ich unser Auto durch die Waschanlage. Ich wusste nicht, ob ich staunte oder erschrocken war, wahrscheinlich beides gleichzeitig, als zwei riesengroße schwarze Bürsten auf mich und mein Auto zukamen und uns einhüllten.
Sehe ich in den Nachrichten, wie ein Tornado übers Land fegt, staune ich über dieses mir fremde Naturereignis. Wenn dann aber Bäume, Häuser und Autos durch die Gegend fliegen, erfasst mich Entsetzen.
- Wir staunen über das, was wir herausgefunden habe, weil wir unseren Horizont erweitern wollten.
Wer liebt nicht Aussichtstürme? Bei klarem Wetter, ringsherum ein weiter Blick über Hügel, Wälder, Dörfer, Straßen, Autos, Flüsse, eine Spielzeuglandschaft liegt uns zu Füßen. Das gefällt uns. Dieser weite Horizont, der sich fast kreisrund um uns schließt. Und was es da nicht alles zu sehen gibt!
Trotzdem zieht es meine Gedanken direkt zum Horizont, der ja meine Sicht begrenzt. Was liegt dahinter, hinter dem Horizont?
Der Reiz des Neuen, Entdeckerehrgeiz. Das Verborgene erkunden. Das Versteckte aufspüren. Hinter dem Horizont meiner Begrenzungen.
Horizonterweiterung ist erlaubte Neugierde, die immer wieder staunt.
- Wir staunen über das, was uns begegnet, weil wir von den Selbstverständlichkeiten den Staub weggepustet haben.
Wir sind umgeben von vielen Selbstverständlichkeiten: Eisenbahn, Musik aus dem Radio mit mehreren Programmen, Haustüren, Telefon, Fenstervorhänge, Kühlschrank incl. Elektrizität, Gesundheitsversorgung, Verkehrssystem, Türklingeln, Tageszeitung, Treppenstufen, …
Es ist gut, dass sie meistens im Hintergrund bleiben, alle übersteigen gemeinsam unser Vorstellungsvermögen, aber ab und zu dürfen sie einzeln in den Vordergrund geholt werden, muss mal wieder der Staub der Selbstverständlichkeit weggepustet und gestaunt werden.
- Wir staunen über das einzigartige Leben jedes Menschen, in Gegenwart und Vergangenheit, das im Grau des Alltags aufblitzt.
Er saß alleine im ICE-Abteil. Ich schätzte ihn so auf 68. Bald waren wir miteinander im Gespräch. Er erzählte gerne aus seinem Familienleben und dass er Schnellzuglokführer gewesen sei.
Auf meine Frage, ob er einmal einen Personenschaden erlebt hätte, erzählte er, wie sie einen Selbstmörder, der vor den Zug gesprungen sei, nur noch „abkratzen“ konnten. Wenn er später an der Stelle wieder vorbeigefahren sei, da habe er – so sagte er wörtlich – die Geister tanzen sehen. Aber das war nur ein Thema zwischen uns, das wohl wirklich für ihn schon abgeschlossen schien. Mobbing am Arbeitsplatz, die Karriere der Kinder, sein Hobby, das Sammeln von Holzwerkzeugen, als junger Mann hat er einen großen Bahnhof mitaufgebaut, seine jahrelangen Kopfschmerzattacken, …ein ganzes einzigartiges Leben entfaltete sich in dieser knappen Stunde.
Das Leben muss nicht leicht gewesen sein, um bestaunenswert zu sein.
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